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Perspektiven sozialdemokratischer Flüchtlingspolitik

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Emotionen, Polemik und Polarisierung — diese Charakteristika der aktuellen Diskussion um die Flüchtlings– und Asylpolitik der Bundesregierung und der politischen Kultur im Land in ihrer Gesamtheit zeigen, weshalb die Diskussion über Auswege und Lösungen für diese neue bundesrepublikanische „Krise” so ineffizient und ergebnislos geführt wird. Zu diesem Bild passt, dass seit Tagen in Medien und Politik über den Familiennachzug anerkannter Asylanten gestritten wird. In der neuesten Einigung der großen Koalition ist nun die Rede davon, den Familiennachzug für subsidiär Schutzbedürftige, also nicht unmittelbar Verfolgte aus Bürgerkriegsgebieten, auszusetzen. Wie man im Falle der wenigen hundert minderjährigen Flüchtlinge verfährt, ist im Zuge dieser Auseinandersetzung zur alles beherrschenden Streitfrage geworden. Dass zur Zeit die Verfahren des Familiennachzuges in den deutschen Botschaften vor Ort mehrere Jahre dauern und die wenigen minderjährigen Flüchtlinge sowieso kaum ins Gewicht fallen, wird der Öffentlichkeit nicht kommuniziert — ein Beispiel nutzloser Symbolpolitik. Das Bild, das gezeichnet werden soll: Eine starke Bundesregierung hat durch entschiedenes Handeln den Zustrom der Menschen im Griff. Doch weder wird dieses Bild in der Öffentlichkeit konstruiert, noch hat irgendjemand irgendetwas tatsächlich im Griff.

Stattdessen: Beinahe täglich neue Ideen der kleineren Unionspartei aus Bayern, schier endlose „Wir schaffen das”-Parolen der Merkel-Getreuen und A2-Pläne aus der wahlkämpfenden CDU Rheinland-Pfalz. Diese stehen exemplarisch für ideelle Planlosigkeit und parteiübergreifenden Streit. Da werden Fragen des Familiennachzuges für SPD-Linke zu dogmatischen Glaubensformeln und Migration an sich für Christsoziale zur Frage existenzieller staatlicher Rechtsherrschaft. Die Union ist tief gespalten und fiebert ungewiss wichtigen Landtagswahlen entgegen. Dabei stehen Merkel und Seehofer, die beiden christdemokratischen Extrempositionen der Debatte, im fortwährend zerstrittenen Mittelpunkt. Eine klare Linie der Union? „Wir schaffen das”, irgendwie. Oder eben nicht.

Aus dieser enormen Krise der Christdemokratie angesichts des Merkel’schen „Wir schaffen das” ergeben sich zugleich Perspektiven für Grundsätze sozialdemokratischer Flüchtlingspolitik, die sich nicht in wenig realpolitischen Fragen des Tagesgeschäfts um den Familiennachzug wenig hunderter Jugendlicher aufreiben. Dabei sollte sich die SPD daran orientieren, was sie im Kern seit mehr als 150 Jahren ausmacht: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Hört sich platt an, bietet aber auch angesichts ungekannter Migrationsströme aus der zerfallenden postkolonialen Staatlichkeit des Nahen und Mittleren Ostens Orientierung. Freilich sind diese drei zeitlosen Kriterien sozialdemokratischer Politik in der Flüchtlingsfrage aber neu zu verorten.

Merkels Politik der offenen Grenzen: Ein zutiefst unsolidarischer Ansatz

Merkels Politik der offenen Grenzen: Ein unsolidarischer Ansatz

Da ist zunächst die Freiheit. Aber Freiht für wen wovon? Angesichts dessen, dass sich Bürger in Deutschland fürchten, in welche Richtung sich ihr Land mit Millionen neuer Mitmenschen, zumeist sunnitisch-muslimischer Konfession, verändert, muss dieses sozialdemokratische Freiheitsverständnis neu kommuniziert werden. Exzesse wie in Köln, ungekannte neue Kleinkriminalität in Stuttgart und auf kommunaler Ebene zahllose Schlägereien in Flüchtlingsunterkünften sind dem abträglich; immer noch ist die Lage an den Grenzen chaotisch und die erkennungsdienstliche Registrierung nicht bei jedem Einreisenden durchzuführen. Bürger, die sich vor diesem Hintergrund Sorgen machen, sind tatsächlich besorgte Bürger. Abstruse Vorschläge wie der nach verpflichtendem Arabisch-Unterricht  verstärken diese Gefühle. Als einzige Partei steht die SPD hier für Strukturen, die diesen abstrakten Ängsten Abhilfe schaffen können. Sie steht für einen starken, handlungsfähigen Staat, der seinen Bürgern und allen Menschen garantiert: Ihr könnt in unserem Land in Freiheit leben. Säkulare Freiheit, politische Freiheit, Freiheit unter der Herrschaft eines starken Rechtsstaates. Mit aller Kraft muss unser Staat durchsetzen, was für seine Bürger diese Freiheit bedeutet. Kulturelle Aspekte der Flüchtlinge, die in Deutschland Schutz und langfristig in Teilen eine neue Heimat suchen, müssen benannt und reflektiert werden. Dass beispielsweise ein elfjähriges Mädchen aus einer sunnitischen syrischen Familie von einem Tag zum anderen mit Kopftuch zur Schule kommt, ist sicher nicht immer Ausdruck von religiöser Freiheit. Ein gesamtgesellschaftlicher Diskurs um verschiedene Verständnisse von Freiheit muss derart geführt werden, dass Diskutierende nicht vorschnell diskreditiert und in rechte Ecken gestellt werden. Regelungen wie etwa das Berliner Neutralitätsgesetz wären zumindest in religiösen Aspekten ein Anfang. Schließlich zielen aber auch Ideen wie die des Seeheimer-Kreises nach einer massiven Aufstockung in Polizei und Bundeswehr auf diesen Kern sozialdemokratischen Staatsverständnisses ab und setzen richtige Impulse. Kurzum: Keine Frau, kein Mann und kein Kind sollen sich unfrei, bedroht oder ängstlich fühlen müssen, wenn sie sich in unserer Gesellschaft bewegen. Dazu gehört natürlich im Wesentlichen auch die forcierte Auseinandersetzung mit rechtsextremen Parteien und Gruppen. Auch in Wahlkampfzeiten und erst recht im parlamentarischen Betrieb.

Zudem haben viele Menschen den Eindruck, die Gerechtigkeit sei aus dem Gleichgewicht geraten. Wenn Flüchtlinge kostenlosen Eintritt zu Schwimmbädern und Kultureinrichtungen erhalten, sich gebührenfrei an Unis einschreiben dürfen und aufgrund laxer Abschiebegesetze weniger Sanktionen des Rechtsstaates fürchten müssen als andere Bürger, dann ist dieses subjektive Empfinden gerechtfertigt. Dass zum Beispiel der soziale Wohnungsbau erst angesichts einer Million Flüchtlinge angekurbelt wird, geht aus diesem Verständnis heraus zu Lasten des subjektiven Gerechtigkeitsempfindens. Auch verkürzte Ausbildungszeiten für Flüchtlinge weisen in die falsche Richtung.

Ein grundsätzlicheres Gerechtigkeitsproblem der Flüchtlingspolitik unter Angela Merkel sind aber die offenen deutschen Grenzen. Als Merkel im September letzten Jahres entschied, Dublin-III auf deutscher Seite auszusetzeten und die Grenzen zu öffnen, stand der Balkan kurz vor einer humanitären Katastrophe. Damals war das zweifelsohne die richtige Entscheidung. Der große Fehler war sodann jedoch, die Grenzen bis in die Gegenwart für alle Menschen offen zu halten, die es bis an die deutsche Südgrenze schaffen. Ein enormer Anreiz für Tausende, sich auch auf die gefährliche Reise zu begeben. Dabei ist es kein Zufall, dass es hauptsächlich gesunde, junge und in ihrer Heimat eher wohlsituierte Männer nach Deutschland schaffen. Die Route ist kräftezehrend, die Bezahlung der Schleußer teuer; die aktuelle deutsche Politik der offenen Grenzen belohnt die Starken unter den Flüchtlingen und lässt die Schwachen im Nahen Osten zurück. Es ist daher ein Fehler, so zu tun, als ob die Schließung der deutschen Grenze per se ein inhumaner, unethischer Akt wäre. Flüchtlingsströme lassen sich lenken und die unmittelbaren Folgen einer deutschen Grenzschließung hätten sich nach wenigen Wochen eingestellt. Gleichzeitig mit einer Grenzschließung muss aber zwingend das Festlegen sehr großzügiger Kontingente erfolgen, die organisiert nach Deutschland gebracht werden können; wenn auch nicht zu Beginn in einer gesamteuropäischen Aktion. Im Folgenden böte sich so die Möglichkeit, mit Kontingenten auch jene Schutzsuchenden zu berücksichtigen und aufzunehmen, die zu arm oder zu schwach für eine Reise über das Mittelmeer und den Balkan nach Europa sind. Auch die Finanzierung der Flüchtlingslager in Syrien  selbst, in der Türkei, Jordanien und dem Libanon muss gleichzeitig verdoppelt werden. Eine humane sozialdemokratische Flüchlingspolitik dergestalt, dass die Ärmsten der Armen unter den Flüchtlingen im Nahen Osten auch die Chance auf Schutz in Deutschland hätten, ist eine zwingende Alternative zum jetzigen System. Im Zuge einer solchen Neuregelung wäre zudem eine Steuerung der Kontingente möglich. Das bedeutete in einem zweiten Schritt überdies die mögliche Begrenzung der absoluten Flüchtlingszahl.

Und schließlich zeichnet Solidarität den sozialdemokratischen Umgang mit Schutzsuchenden aus. Solidarität bedeutet: Wenn sich unser Staat entscheidet, Verantwortung für Menschen aufzunehmen, dann muss er diese Menschen ordentlich behandeln. Und dazu gehört nach meinem Verständnis auch, Familien nicht auseinanderzureißen und Kindern ihre Eltern und Geschwister vorzuenthalten. Unser Solidaritätsverständnis unterscheidet nicht nach Herkunft oder Religion und sorgt  konzeptionell für gesamtgesellschaftliche Gerechtigkeit — auch auf kommunaler Ebene, wo sich viele Städte, Gemeinden und Ehrenamtliche seit Monaten an der Belastungsgrenze sehen.

Ziel muss in Zukunft sein, die vorliegenden politischen Ansätze einer ur-sozialdemokratischen Flüchtlingspolitik neu zu kommunizieren. Als klare Alternative zu einer „Flüchtlingspolitik” der Union, die den Wählern Merkels „Wir schaffen das” und Seehofers „Herrschaft des Unrechts” als Strategie zu verkaufen versucht. Denn man muss kein Psychologe sein, um zu konstatieren: Wähler schätzen klare Perspektiven mehr als konzeptlose Worthülsen.

Der Beitrag Perspektiven sozialdemokratischer Flüchtlingspolitik erschien zuerst auf ROTSTEHTUNSGUT.


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